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WOHNEN IN MAINZ : Lebensfreude, Charme und Schulden

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In den von Kriegsbomben verschonten Wiesbadener Jugendstilvillen langweilen sich blasierte Tölpel, im gebeutelten Mainz tobt das pralle Leben – das weiß in der Stadt jedes Kind.

Oberbürgermeister Michael Ebling kommt in der Fastnacht schon mal als rosa Flamingo auf die Bühne und beklagt wortgewandt den Landraub der Hessen. Die Maaraue auf der rechten Rheinseite sei die „Krim von Mainz“. Einst Mainzer Stadtgebiet, wurde das beliebte Naherholungsgebiet Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten kurzerhand abgetrennt und Hessen zugeschlagen.

Fastnacht und Fußball prägen das Bild der Stadt nach außen und das Selbstbild vieler Mainzer noch dazu: Als offen, tolerant und lebenslustig sehen sie sich, Tore im Stadion werden mit dem Narhalla-Marsch gefeiert, Schwalben der Gegner ernten das langgezogene fastnachtliche Wehklagen „Ui-Juijui-Juijui-Juiui, Au-Wauwau-Wauwau“.

Jährlich 2000 neue Mainzer

In diesem Jahr ist sie besonders kurz, die fünfte Jahreszeit. Wer über die Theodor-Heuss-Brücke den Rhein quert und sich der Stadt nähert, wird schon von einem Fahnenmeer mit den typischen rot-weiß-blau-gelben Fastnachtsfarben empfangen. Stolz wehen sie vor dem Kurfürstlichen Schloss – dort, wo in wenigen Tagen die Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ stattfinden wird. „Die Fernsehsitzung“, das muss man wissen, ist das Höchste, was ein Mainzer erreichen kann.

Dass die Stadt ihr Schloss nur mit Hilfe des Landes sanieren kann, dass zugleich Geld fehlt, um das marode denkmalgeschützte Rathaus auf Vordermann zu bringen oder gar das in die Jahre gekommene Gutenbergmuseum zu erweitern – all das spielt für die Anziehungskraft keine Rolle. 1,3 Milliarden Euro Schulden drücken den Haushalt. Mainz gehört zu den Städten mit der höchsten Verschuldung pro Kopf überhaupt. Trotzdem pulsiert das Leben: Die vielen Feste, die bevorzugte Lage am Rhein, die nahen Weinberge, das wirtschaftskräftige Umland im Rhein-Main-Gebiet, die Universität, die gute medizinische Versorgung – all das zieht immer mehr Menschen an.

215.000 Menschen leben zurzeit in Mainz, jährlich ziehen etwa 2000 hinzu. Der Wohnungsmarkt platzt aus allen Nähten. Seit Jahren schon gehört die Stadt zu den teuersten Wohnorten in Deutschland, der Strom der Neubürger und die niedrigen Zinsen heizen den Preisanstieg an. In Neubauten übersteigen die Kaltmieten je Quadratmeter die 13-Euro-Grenze. Für die wenigen aktuell angebotenen Eigentumswohnungen im Verkaufsportal Immobilienscout verlangen die Eigentümer im Schnitt schon fast 4000 Euro.

Mittelschichtfamilien müssen kämpfen

Dabei stellt sich für die vielen Neuankömmlinge und Wohnungssuchenden nicht nur die Frage, ob sie das bezahlen können oder wollen. Es gibt schlicht nicht genug Angebot. 2015 hat die Stadt eine Art Notprogramm aufgelegt und 6500 neue Wohnungen versprochen: am Rheinufer, auf ehemaligen Fabrik- und Kasernengeländen – wo möglich, wird verdichtet. Die Anstrengung kann freilich nicht verbergen, dass viele Probleme hausgemacht sind. Die sprichwörtlich gewordene Handkeesmafia, unsägliche Seilschaften aus lokaler Politik und Wirtschaft, haben die Stadt gelähmt und tun es manchmal noch heute.

Statt ihrem „Kerngeschäft“ nachzugehen und günstige Wohnungen zu bauen, hat die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft Wohnbau Mainz über Jahre Prestigeobjekte finanziert und sich dann auch noch bei der Finanzierung verspekuliert. Sie konnte nur durch Wohnungsverkäufe und neues Geld der Stadt gerettet werden. Hunderte Mieter bezahlten die Misswirtschaft schon damals mit steigenden Mieten.

Heute ist es keine Seltenheit, dass Häuser und Wohnungen in begehrten Innenstadtlagen und attraktiven Stadtteilen wie Gonsenheim oder Bretzenheim nicht verkauft werden, sondern höchstbietend versteigert. Zugleich fallen jedes Jahr mehr als 100 Wohnungen aus der Sozialförderung, danach steigen die Mieten. Wer da nicht mithalten kann, zieht weg. Ein Phänomen, das schon lange nicht mehr nur die Armen trifft. Selbst gut verdienende Mittelschichtfamilien müssen kämpfen.

„In zehn Jahren ist das ein Spießerviertel“

Astrid Eisinger sitzt in „ihrem“ Café und schaut sich um. „Viele Leute, die hier leben, können sich das bald nicht mehr leisten“, sagt die Grafikerin, die vor Jahren schon zum Studium aus der Pfalz in die Landeshauptstadt gekommen ist. Hier, das ist der Gartenfeldplatz in der Mainzer Neustadt. Das Viertel war lange ein buntes Revier mit Studenten, Zuwanderern, Alteingesessenen und Kreativen. Heute steigen die Wohnungspreise hier mit am schnellsten in Mainz: Das Viertel ist hipp, ein bisschen Prenzlauer Berg am Rhein. Und der Gartenfeldplatz mit seinen Kneipen, dem Buchladen Bukafski, einem Spielplatz und der angesagten Eisdiele N’Eis ist sozusagen der Hotspot.

Eisinger hat sich früh entschieden, hier zu bleiben – aus heutiger Sicht ein Glück. Sie und ihr Mann, ein Informatiker, haben das fünfstöckige Haus aus den zwanziger Jahren schon 2007 gekauft, gemeinsam mit Freunden aus der damaligen WG – vor dem Boom, als Preise und Mieten moderat waren und die Gegend als schwierig galt. Seitdem wohnen sie dort im eigenen Haus und haben einen Teil vermietet. Die ehemalige Wäscherei im Erdgeschoss bauten sie mit einer jungen Gastronomin zum Café um. In kurzer Zeit wurde die „Annabatterie“ zum angesagten Treff des Viertels. Heute könnten sie sich ihr Haus wohl nicht mehr ohne Weiteres leisten, sagt Eisinger. Freunde, die im Viertel bleiben wollten, hätten zwei kleine Wohnungen gekauft und zusammengelegt, für 700.000 Euro, das sei doch verrückt.

Die Grafikerin ist froh, hier zu sein. Die Nähe zum Theater, das bunte Umfeld, all das schätzt sie, aber sie sieht die Entwicklung skeptisch. „In zehn Jahren ist das ein Spießerviertel“, sagt sie salopp. Im Stadtteil der Kreativen gebe es schon jetzt immer weniger Freiräume. Tänzer und Schauspieler vom Staatstheater etwa könnten sich die Gegend bald nicht mehr leisten. Ihre ehemaligen WG-Freunde sind in der Zwischenzeit nach Gonsenheim gezogen, um den Kindern mehr Grün zu bieten. Später, wenn der Nachwuchs aus dem Haus sei, wollten sie aber wieder zurück.

Bis zu 7000 Euro je Quadratmeter

Die Wanderungsbewegung war früher typisch für viele der rund 40.000 Studenten, die nach dem Studium in der Stadt blieben. Ein WG-Zimmer in der Neustadt, nach der Heirat Umzug in eine größere Wohnung, nach der Geburt der Kinder in ein stadtnahes Haus. Heute ist das nicht mehr ohne Weiteres möglich, es fehlt schlicht an Wohnraum. Immer mehr geben die Suche deshalb entnervt auf und ziehen weg. Auch Anja Biebl und ihr Mann Konrad Niesel sind nach dem Studium in Mainz hängengeblieben. Die beiden Saarländer sind nach Stationen in der Neustadt ebenfalls in Gonsenheim gelandet und fühlen sich wohl, sogar in der Imagebroschüre der Stadt war die junge Familie abgebildet. Jetzt ziehen sie weg, wider Willen. Ihr Vermieter will das Haus verkaufen, ein Reihenhaus mit 120 Quadratmeter Wohnfläche ohne Keller: samt Nebenkosten und Renovierung für eine halbe Million Euro.

Der Pharmaberater und die Grafikerin haben lange nach Alternativen gesucht, aber es gibt schlicht keine Angebote – obwohl sie gut verdienen. Auch Mieten sei keine sinnvolle Alternative bei Monatsmieten von 1600 Euro, sagt Niesel. Deshalb habe sich die Familie entschlossen, ein Haus außerhalb von Mainz zu kaufen, im rheinhessischen Bodenheim. Dort sind Häuser nicht nur billiger, es gibt überhaupt noch welche auf dem Markt. Die Stadt hätte nach Niesels Worten besser auf die soziale Balance achten müssen. Den Beteuerungen, etwas für junge Familien zu tun, glauben die beiden schon lange nicht mehr. „In der neuen Imagebroschüre“, sagt Anja Biebl, „sind wir schon gar nicht mehr drin.“

Die Stadtführung betont beständig, gegen eine soziale Spaltung zu kämpfen, beim Wohnungsbau aber sehen die Fakten anders aus. Der Zollhafen, ein spektakuläres wie umstrittenes Projekt am alten Rheinhafen, wird ein reinrassiges Luxusdomizil, 1400 Wohnungen für bis zu 7000 Euro je Quadratmeter werden dort entstehen, dazu Büros für bis zu 4000 Beschäftigte – Bootsanleger inklusive. Das zweite große Bauprojekt auf einem 30 Hektar großen ehemaligen Betriebsgelände von IBM soll nach dem Willen der Stadt durchmischt sein; ein Viertel der geplanten 2000 Wohneinheiten soll sozial gefördert werden.

Der Zuzug wird die Stadt nicht nur größer machen, er wird sie verändern. Die Gefahr besteht, dass das Alte zur Kulisse wird. Schon jetzt gibt es vermehrt Klagen von Anwohnern gegen Feierlärm und Weinstände am Rhein. Schon jetzt beklagen sich die Händler auf dem Wochenmarkt, dass zwar immer mehr Menschen zum traditionellen Marktfrühstück kommen – einer allsamstäglichen Schwelgerei mit „Weck, Worscht und Woi“ –, auf dem Markt aber nicht mehr einkaufen. Der Markt wird zur bloßen Dekoration für einen neuen Lifestyle. Ähnliches kann man auch im Stadion beobachten, wo auf den Rängen der VIP-Tribüne trotz akuter Abstiegsnot eine Stimmung verbreitet wird wie von blasierten Tölpeln. Wenn die neuen Mainzer nicht aufpassen, sind sie von den Wiesbadenern bald kaum noch zu unterscheiden.

 

Quelle: F.A.Z.

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